ZWANGSSTÖRUNGEN – WENN GEDANKEN ZU FESSELN WERDEN

Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einer Tür. Eine einfache Holztür, wie sie in jedem normalen Haus zu finden ist. Sie haben diese Tür bereits fünfmal überprüft um sicherzustellen, dass sie verschlossen ist. Doch trotz des rationalen Wissens, dass die Tür sicher verriegelt ist, drängt Sie eine unerklärliche Angst dazu sie noch einmal zu überprüfen. Und dann noch einmal. Und noch einmal.

Diese quälenden Gedanken und Handlungen sind kein Ausdruck von Aberglaube oder übertriebener Vorsicht, sondern Symptome einer ernsthaften psychischen Erkrankung: Der Zwangsstörung. Von aussen unsichtbar, aber für die Betroffenen eine allgegenwärtige Last, die ihr tägliches Leben beherrscht.

Ein Portrait der Zwangsstörung

Eine Zwangsstörung (auch Zwangsneurose genannt) ist eine psychische Erkrankung, die durch das Vorhandensein von wiederkehrenden und unerwünschten Gedanken gekennzeichnet ist, die Angst oder Unbehagen verursachen. Diese Gedanken führen zu zwanghaften Verhaltensweisen oder Handlungen, die dazu dienen die Angst zu lindern oder bestimmte Situationen zu kontrollieren.

Zwangsgedanken…sind oft absurd oder unangemessen, können aber dennoch hartnäckig und schwer kontrollierbar sein.

Zwangshandlungen…sind oft ritualisiert und werden in einem bestimmten Muster oder einer bestimmten Reihenfolge wiederholt.

Auch wenn die Betroffenen wissen, dass ihre Handlungen irrational sind, fühlen sie sich dennoch gezwungen sie auszuführen, um die Angst zu reduzieren oder ein Gefühl der Sicherheit zu erlangen.

Wichtig: Zwangsstörungen sind weltweit verbreitet und die vierthäufigste psychische Erkrankung. Sie können in jedem Alter auftreten, wobei der Beginn oft in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter liegt. Männer und Frauen sind gleichermassen betroffen. (Dgppn-Leitlinie, 2013)

Verschiedene Erscheinungsformen

Zwangsstörungen können sich auf verschiedene Arten manifestieren und die Zwangsgedanken- und handlungen können bei verschiedenen Menschen unterschiedlich sein. Es folgen einige häufige Formen von Zwangsstörungen:

Waschzwang: Personen mit dieser Form von Zwangsstörung haben das Gefühl, dass sie kontaminiert oder schmutzig sind. Dies führt zu zwanghaftem Händewaschen oder Reinigen von Gegenständen, um die Angst vor Keimen zu lindern.

Kontrollzwang: Bei dieser Form der Zwangsstörung haben die Betroffenen wiederkehrende Gedanken, dass sie eine Katastrophe verursachen könnten, wenn sie bestimmte Dinge nicht kontrollieren. Dies kann zu zwanghaftem Überprüfen von Türen, Herden oder anderen Gegenständen führen.

Zählzwang: Menschen mit Zählzwang verspüren einen unkontrollierbaren Drang Dinge zu zählen. Die Zählrituale können dabei beispielsweise das durchgehen bestimmter Zahlenabfolgen, das zählen von Objekten oder das durchführen bestimmter Handlungen nach Zahlenfolgen umfassen.

Ordnungszwang: Personen mit diesem Zwang haben ein starkes Bedürfnis hinsichtlich Symmetrie und Ordnung. Sie können zwanghaft aufräumen, organisieren oder bestimmte Gegenstände immer wieder anordnen, um ein Gefühl der Kontrolle zu erlangen.

Sammelzwang: Diese Form der Zwangsstörung beinhaltet zwanghaftes Ansammeln von Gegenständen, auch wenn diese keinen praktischen Nutzen haben. Die Betroffenen haben oft Schwierigkeiten sich von ihren Besitztümern zu trennen, selbst wenn sie Platzmangel oder andere Probleme verursachen.

Das verborgene Leid von Betroffenen

Obwohl der Verstand von Zwangserkrankten weiss, dass die Zwangsgedanken und Zwangshandlungen unsinnig oder übertrieben sind, lässt sich das dabei aufkommende Angstgefühl nicht beruhigen. Nur durch entgegenwirken mit Zwangshandlungen oder gedanklichen Ritualen kann es von Betroffenen reduziert werden. Dies kann unter Umständen Stunden lang dauern und den gesamten Tagesablauf beeinträchtigen. Wie hoch der Leidensdruck tatsächlich bei jedem Betroffenen ist, hängt mit dem Ausmass der Erkrankung und dem damit einhergehenden Zeitaufwand zusammen. Wenn die Zwangsrituale die Dauer einer Stunde täglich nicht überschreiten, können Betroffene in der Regel noch ihren privaten und beruflichen Verpflichtungen nachgehen. Was jedoch nicht bedeutet, dass ihr Alltag nicht sehr anstrengend ist. Er erfordert oft viele vorbeugende Massnahmen und Ausreden, um die Zwänge zu verstecken oder zu begründen, da Betroffene grosse Scham erleben und Angst vor Stigmatisierung haben. Genau dieser ständige Kampf kann zu einem chronischen Zustand der Erschöpfung, Frustration und Hoffnungslosigkeit sowie zu weiteren psychischen Erkrankungen, wie einer Depression führen.

Der Kreislauf des Zwangs: Wie Zwangsstörungen entstehen und bestehen bleiben

Die Entstehung von Zwangsstörungen ist komplex und kann durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst werden:

  • Genetische Faktoren: Es gibt Hinweise darauf, dass Veranlagungen eine Rolle bei der Entwicklung von Zwangsstörungen spielen. Studien haben gezeigt, dass Menschen, deren Familienmitglieder an Zwangsstörungen leiden, ein höheres Risiko haben selbst zu erkranken.
  • Neurobiologische Faktoren: Veränderungen in der Gehirnchemie und -struktur können ebenfalls zur Entstehung von Zwangsstörungen beitragen. Insbesondere Störungen im serotonergen System des Gehirns werden mit Zwangsstörungen in Verbindung gebracht.
  • Umweltfaktoren: Traumatische Ereignisse, Stress und belastende Lebenssituationen können das Risiko erhöhen eine Zwangsstörung zu entwickeln oder bestehende Symptome verschlimmern. Kinder, die in einem Umfeld aufwachsen, das von übermässiger Kontrolle oder Kritik geprägt ist, sind dabei besonders anfällig.
  • Lernprozesse: Einige Theorien besagen, dass Zwangsstörungen durch Lernprozesse entstehen. Zum Beispiel kann eine Person, die repetitive Verhaltensweisen durchführt um Angst zu reduzieren, versehentlich eine Verstärkung dieses Verhaltens erleben, was zu einer Verfestigung der zwanghaften Handlung führt.

Was Zwangsstörungen am Leben hält sind komplexe Interaktionen zwischen diesen Faktoren und den zugrunde liegenden Mechanismen der Störung:

  • Negative Verstärkung: Zwangshandlungen können kurzfristig Erleichterung von Angst oder Unbehagen bieten, was dazu führt, dass die betroffene Person dazu neigt diese Handlungen immer wieder auszuführen, um die unangenehmen Gefühle zu reduzieren.
  • Vermeidungsverhalten: Um die Angst vor zwanghaften Gedanken oder Situationen zu vermeiden, können Betroffene bestimmte Aktivitäten oder Orte meiden, was langfristig dazu führen kann, dass die Zwangsstörung aufrechterhalten wird.
  • Familiäre und soziale Dynamiken: Weiterhin tragen die Familie und das soziale Umfeld in manchen Fällen zur Aufrechterhaltung von Zwangsstörungen bei, indem sie entweder Verstärkung für zwanghaftes Verhalten bieten oder durch Kontrolle sowie Kritik zu Stress und Angst beitragen.

Welche Behandlungsoptionen gibt es?

Die Behandlung von Zwangserkrankungen umfasst in der Regel eine Kombination aus Psychotherapie, Medikamenten und weiteren unterstützenden Massnahmen:

1. Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)

Die KVT ist die bevorzugte Psychotherapiemethode zur Behandlung von Zwangsstörungen. Sie beinhaltet Techniken, wie Exposition und Reaktionsverhinderung, bei denen die Betroffenen langsam und kontrolliert ihren zwanghaften Gedanken oder Situationen ausgesetzt werden. Dabei lernen sie die zwanghaften Reaktionen zu unterdrücken. Diese Therapieform hilft den Betroffenen ihre Ängste zu bewältigen und neue Bewältigungsstrategien zu erlernen.

2. Medikamentöse Therapie

Bestimmte Medikamente, insbesondere selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) und trizyklische Antidepressiva, können bei der Behandlung von Zwangsstörungen helfen. Die Medikamente helfen dabei die Intensität der zwanghaften Gedanken und Handlungen zu reduzieren und die Stimmung zu stabilisieren.

3. Unterstützende Massnahmen

Ergänzend zur Psychotherapie und Medikation können unterstützende Möglichkeiten, wie Selbsthilfegruppen, Stressmanagement-Techniken, regelmässige Bewegung und Entspannungsübungen den Behandlungserfolg zu unterstützen und die Lebensqualität verbessern.

Die Behandlung von Zwangserkrankungen erfordert in der Regel eine individuell angepasste Herangehensweise, die die spezifischen Bedürfnisse und Umstände des Einzelnen berücksichtigt. Es ist wichtig eine umfassende Behandlung durch qualifizierte Fachkräfte zu erhalten und bei Bedarf Unterstützung von Familienmitgliedern und anderen nahestehenden Personen in Anspruch zu nehmen. Mit einer angemessenen Behandlung erleben die meisten Menschen mit Zwangsstörungen eine signifikante Verbesserung ihrer Symptome und können ein erfülltes Leben führen.

Quellenangaben
  • Althaus, D., Niedermeier, N. & Niescken, S. (2018). Zwangsstörungen: Wenn die Sucht nach Sicherheit zur Krankheit wird. C.H.Beck, München.
  • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (o.D.). Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie. https://www.dgppn.de/leitlinien-publikationen/leitlinien.html, Abruf am 17.03.2024.
  • Förstner, U., Voderholzer, U. & Külz, A.-K. (2018). Störungsspezifische Behandlung der Zwangs-störungen: Ein Therapiemanual. Kohlhammer, Stuttgart.
  • Fricke, S. (2018). Zwangsstörungen verstehen und bewältigen. BALANCE Buch + Medien Verlag, Köln.

Kategorien: Zwang

Dr. med. Marc Risch
Chefarzt und Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. med. Marc Risch
Das CLINICUM ALPINUM ist spezialisiert auf die Behandlung von Depressionen und affektiven Erkrankungen. Mit unserem Blog möchten wir über psychische Erkrankungen aufklären, über die Klinik und die Therapien informieren und einen Beitrag zur Entstigmatisierung leisten.

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